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Death Cloud ysh-1 Page 10
Death Cloud ysh-1 Read online
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Doch er stieß weder auf eine Hufspur noch auf einen fallengelassenen Gegenstand. Dafür aber auf Matthew Arnatt, der draußen neben dem Tor saß und mit zwei Hochrädern auf ihn wartete.
»Wo hast du denn die aufgetrieben?«, fragte Sherlock.
»Gefunden. Dachte, du hast vielleicht Lust auf ’ne Spritztour. Ist bequemer als gehen und man kommt viel weiter.«
Sherlock starrte ihn einen Moment lang an. »Warum?«
Matty zuckte die Achseln. »Hab nichts anderes vor.« Er hielt inne und wandte den Blick in die Ferne. »Hatte daran gedacht, die Leinen loszuwerfen, und mit dem Boot ein Stückchen den Kanal weiter runterzuschippern. Aber das heißt für mich nur, dass ich wieder neu in einer anderen Stadt anfangen muss. Rauskriegen, wo man am besten an Essen kommt und all so was. Hier kenn ich zumindest ein paar Leute. Na ja, ich kenn dich.«
»In Ordnung. Ich könnte etwas Bewegung vertragen. Nach gestern sind meine Muskeln völlig steif.«
»Was war denn gestern?«
»Das werde ich dir beim Radfahren erzählen.« Sherlock blickte die Straße hinunter, die am Tor vorbeiführte. »Ist hier ein Reiter vorbeigekommen und hat eine Weile halt gemacht?«
»Ja. Der ist an mir vorbeigeritten und hat ein Stück weiter vorne gehalten.« Er wies nickend auf die Stelle, an der Sherlock den Reiter gesehen hatte. »Sah aus, als ob er was beobachten würde. Aber dann ist er wieder weitergeritten.«
»Hast du ihn erkannt?«
»Hab nicht richtig auf ihn geachtet. Macht das was?«
Sherlock schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht.«
Sie schlugen die entgegensetzte Richtung ein, die der Reiter genommen hatte, und radelten die Straße entlang auf Farnham zu. Sherlock hatte lange nicht mehr auf einem Hochrad gesessen und fuhr zunächst heftig schlingernd hinter Matty her. Aber es dauerte nur ein paar Minuten, bis er den Bogen wieder raus hatte und gleichauf mit Matty war. Während sie Seite an Seite auf der Straße dahinfuhren – über sich das Schatten spendende Blättergewölbe der mächtigen Alleebäume und rechts und links Felder voller leuchtend gelber Blumen –, erzählte er Matty, was er gestern erlebt hatte. Er berichtete von dem Mann, den er von dem Haus aus, wo Matty der merkwürdigen Wolke begegnet war, bis zum Lagerschuppen verfolgt hatte, dann von dem mit Kisten beladenen Wagen und schließlich natürlich auch vom Feuer. Matty löcherte ihn permanent mit Fragen, und Sherlock ertappte sich unversehens dabei, wie er kleine Einzelheiten der Geschichte noch einmal wiederholte, sich dabei in Erklärungen verhedderte und irgendwie nicht auf den Punkt kam. Er war alles andere als ein begnadeter Geschichtenerzähler. Und einen Moment lang wünschte er, er hätte jemanden, der einfach die Fakten aus seinem Kopf nehmen könnte, um sie in einer Art und Weise anzuordnen, die einen Sinn ergab.
»Du hast Glück gehabt, dass du da lebend rausgekommen bist«, sagte Matty, als Sherlock zu Ende erzählt hatte. »Ich hatte mal ’nen Job in ’ner Bäckerei. Vor ein paar Monaten. Ist abgebrannt. Ich hatte Schwein, dass ich das überlebt habe.«
»Was ist da passiert?«, fragte Sherlock.
Matty schüttelte den Kopf. »Der Bäcker war ein Idiot. Hat ein Streichholz für seine Pfeife angezündet. Gerade in dem Moment, als wir die Mehlsäcke aufgemacht haben.«
»Und was hatte das mit dem Feuer zu tun?«
Matty sah ihn irritiert an. »Ich dachte, jeder weiß, dass Mehlstaub in der Luft wie Sprengstoff ist. Wenn ein Mehlkörnchen Feuer fängt, breitet es sich in einer Sekunde überall hin aus, wie ein überspringender Funke.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Die ganze Bäckerei wurde in Stücke gesprengt. Ich hatte Glück, weil ich gerade hinter einem Tisch war. Trotzdem hat es einen ganzen Monat gedauert, bis meine Haare wieder ordentlich nachgewachsen sind.« Er blickte zu Sherlock auf und fügte hinzu: »Na ja, egal. Was willst du jetzt machen?«
»Wir sollten alles dem hiesigen Constable erzählen«, antwortete Sherlock. Schon als er das aussprach, merkte er, wie unsinnig das klang. Zwei Leichen, eine seltsame Todeswolke, ein mysteriöses gelbes Puder und eine Bande von Schlägertypen, die einen Lagerschuppen in Brand steckten – das alles hörte sich viel zu sehr nach typischen Phantasiegespinsten von Kindern an.
Immerhin waren tatsächlich zwei Männer gestorben und die rußgeschwärzten qualmenden Überreste des Lagerschuppens würden noch einige Zeit für sich sprechen. Somit ließ sich also zumindest die Hälfte der Geschichte durch Fakten untermauern. Der Rest allerdings bestand im Grunde viel zu sehr aus wilden Spekulationen und phantastischen Mutmaßungen, die einfach aneinandergereiht worden waren, um die Lücken im Gedankengebäude zu schließen.
Ein Blick in Mattys Gesicht verriet Sherlock, dass sein Begleiter so ziemlich dasselbe dachte. Er kniff frustriert den Mund zusammen. Er kannte niemanden in der Gegend, der ihnen helfen könnte, und die Leute, die es hätten tun können, waren nicht in der Gegend. Es war paradox.
Doch dann sah er in Gedanken plötzlich Amyus Crowes eindrucksvolle Gestalt vor sich. Eine Welle der Erleichterung durchdrang ihn und riss die düstere Wolke der Unsicherheit, die ihn eingehüllt hatte, mit sich fort. Es war, als hätte eine Woge kalten Wassers Schlamm und Schmutz von einem Stein gespült. Crowe schien jemand zu sein, der mit einem Jugendlichen so redete, als wäre er erwachsen. Außerdem verfügte er über einen logisch arbeitenden Verstand. Er ließ sich nicht einfach vom äußeren Anschein leiten, sondern gelangte lieber mit Hilfe einzelner Indizien nach und nach zu den richtigen Schlussfolgerungen. Er war der Einzige, der ihnen tatsächlich Glauben schenken könnte.
»Wir werden es Amyus Crowe erzählen«, sagte Sherlock.
Matty blickte skeptisch drein. »Der große Kerl mit der komischen Stimme und den weißen Haaren?«, fragte er. »Bist du sicher?«
Sherlock nickte entschlossen. »Bin ich.« Doch gleich darauf machte er ein langes Gesicht und ließ die Schultern sinken. »Aber ich weiß nicht, wo er wohnt. Wir müssen wohl warten, bis er wieder bei meinem Onkel auftaucht. Oder meinen Onkel fragen, wo er ist.«
Matty schüttelte den Kopf. »Er hat ein Haus am Stadtrand gemietet«, sagte er. »War früher mal das Cottage vom Jagdhüter. Mit den Rädern können wir wahrscheinlich in einer halben Stunde da sein.« Er bemerkte Sherlocks überraschten Gesichtsausdruck. »Was denn?«, fügte er hinzu. »Ich weiß eben Bescheid, wo hier wer wohnt, so ziemlich jedenfalls. Wenn ich wissen will, wo sich mit großer Wahrscheinlichkeit jederzeit Essen auftreiben lässt, gehört das dazu. Ich muss wissen, wie ein Ort wie dieser so taktet. Wo die Leute wohnen, wo sich der Markt befindet oder das Getreide lagert. Nicht zu vergessen, wo sich der Constable morgens, mittags und abends meist rumtreibt oder welche Obstgärten bewacht werden und welche nicht. Das ist eine Frage des Überlebens.«
.Beobachtungsgabe, dachte Sherlock und erinnerte sich daran, was Amyus Crowe ihm erzählt hatte. Am Ende lief alles auf Beobachtungsgabe hinaus. Denn hatte man erst genug Fakten, konnte man fast alles herausfinden.
Und eben das war das Problem mit den beiden Leichen und der Todeswolke … Sie hatten einfach nicht genug Fakten.
Unter Umgehung der Hauptstraßen, auf denen zu dieser Tageszeit jede Menge Leute unterwegs sein würden, radelten die beiden durch die Stadt. Abgelenkt vom Wirrwarr aus Vermutungen, Fakten und Hypothesen, das ihm im Kopf herumschwirrte, verging die Zeit für Sherlock wie im Flug. Und kaum hatten sie sich auf den Weg gemacht, hielten sie zu seiner Überraschung auch schon vor dem Steincottage, in dem Amyus Crowe anscheinend wohnte.
Sherlock nahm eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahr. Er spähte zur gegenüberliegenden Wegseite hinüber und sah einen gesattelten Hengst, der auf einer Koppel graste. Einen schwarzen Hengst mit einem braunen Fleck, der sich über seinen Hals zog.
Er kannte das Tier. Wegen der großen Entfernung seinerzeit hätte er es nicht beschwören können, aber er war ziemlich sicher, dass es dasselbe Pferd war, das er bereits zweimal gesehen hatte. Mit einem mysteriösen Reiter auf dem Rücken, der ihn beobachtete.
Ein Schauder durchfuhr ihn, und er spürte, wie er eine Gänsehaut bekam. Was ging hier vor sich?
Matty hielt sich im Hintergrund und wartete an der Pforte, während
Sherlock durch den Vorgarten auf das Haus zusteuerte. Kurz vor der Tür wandte er sich um und blickte Matty fragend an.
»Ich bleib hier«, verkündete der Junge mit finsterer Miene.
»Was ist denn los?«
»Ich kenn den Kerl nicht. Vielleicht passt ihm meine Nase nicht.«
»Ich sag ihm, dass du in Ordnung bist und man dir vertrauen kann. Dass du mein Freund bist.«
Als ihm das Wort »Freund« über die Lippen kam, verspürte er einen plötzlichen Anflug von Überraschung. Vermutlich war Matty tatsächlich sein Freund, aber der Gedanke verwirrte Sherlock. Noch niemals zuvor hatte er so etwas wie einen Freund gehabt. Definitiv nicht in der Schule und nicht einmal an ihrem Familiensitz, dem Ort, der für ihn als Zuhause galt. Die Kinder, die dort in der Gegend lebten, hatten das Haus der Holmes gemieden. Denn in ihren Augen waren sie gesellschaftlich höher Stehende, Angehörige des Landadels, die sich in unerreichbaren Sphären bewegten. Infolgedessen hatte Sherlock die meiste Zeit alleine verbracht. Selbst Mycroft war kaum über die Rolle einer tröstlichen Präsenz hinausgelangt. Er hatte den ganzen Tag in der Familienbibliothek gehockt und sich dort durch die riesige Büchersammlung gearbeitet, die die Familie über Generationen hinweg erworben hatte. Nicht selten kam es vor, dass Sherlock Mycroft nach dem Frühstück in der Bibliothek allein ließ und ihn dann zur Mittagessenszeit noch in genau derselben Position wiederfand wie am Morgen. Der einzige Unterschied bestand lediglich darin, dass der Stapel ungelesener Bücher geschrumpft war, während sich der Stapel gelesener Bücher vergrößert hatte.
»Trotzdem«, sagte Matty. »Ich warte lieber draußen.«
Sherlock schoss ein Gedanke durch den Kopf. »Draußen?«, wiederholte er nachdenklich. »Du hältst dich gerne unter freiem Himmel auf, stimmt’s? Ich hab dich noch nicht einmal drinnen in einem Raum gesehen.«
Mattys finsterer Blick verdüsterte sich noch mehr und er wandte den Blick ab. »Mag eben keine Mauern«, brummte er. »Kann’s nicht haben, wenn ich nur durch eine enge Tür abhauen kann. Vor allem wenn ich nicht weiß, mit wem ich es drinnen zu tun habe.«
Sherlock nickte. »Ich verstehe«, sagte er sanft. »Ich weiß nicht, wie lange ich brauche. Vielleicht wartest du ja, bis ich wieder rauskomme.« Er blickte sich zur Tür um. »Das heißt, vorausgesetzt, dass überhaupt jemand zu Hause ist.« Er warf einen kurzen Blick zum schwarzen Hengst hinüber, der sich unverdrossen das Gras schmecken ließ. Dann klopfte er entschlossen an die Tür. Als er sich noch einmal umsah, war Matty samt seinem Rad verschwunden.
Einige Augenblicke später öffnete sich die Tür. Sherlocks Blick war leicht nach oben gerichtet, in der Erwartung, Amyus Crowe vor sich stehen zu sehen. Verdutzt schaute er kurz ins Leere. Dann senkte er den Blick. Sein Herz stolperte vor Verwirrung und Aufregung, als er feststellte, dass er einem Mädchen ins Gesicht sah. Es war genauso groß wie er. Sie trug dunkle Kleidung und vor dem Hintergrund des finsteren Flures schien ihr Gesicht mitten in der Luft zu schweben.
»Ich … äh … ich suche MrCrowe«, brachte Sherlock hervor und wurde wegen seiner stockenden Stimme rot.
Verzweifelt wünschte er, er könnte sich so selbstbewusst und unberührt anhören, wie Mycroft es scheinbar immer so mühelos zustande brachte.
»Mein Vater ist nicht zu Hause«, antwortete das Mädchen. Ihre Stimme wies dasselbe Näseln auf, wie es bei ihrem Vater der Fall war, wodurch sich der Satz eher anhörte wie Meine Father is nikt su Haus. Ein amerikanischer Akzent? Was immer es auch war, es verlieh ihr jedenfalls etwas Exotisches. »Und wer, soll ich ausrichten, hat nach ihm verlangt?«
Sherlock merkte, dass er einfach nicht den Blick von ihrem Gesicht abwenden konnte. Sie war ungefähr so alt wie er. Ihr langes, rötlich-goldenes Haar fiel gelockt auf die Schultern herab … wie kupferfarbenes Wasser, das auf Steine herabplätscherte und zu allen Seiten davonspritzte. Ihre Augen wiesen einen leichten Violetton auf, den Sherlock bisher nur bei Wildblumen gesehen hatte. Ihre sommersprossige Haut war gebräunt, als ob sie einen großen Teil ihrer Zeit im Freien verbrachte.
»Ich bin Sherlock«, sagte er. »Sherlock Holmes.«
»Du bist das Kind, das er unterrichtet.«
»Ich bin kein Kind. Ich bin genauso alt wie du«, antwortete er mit so viel Bravour, wie er nur eben zustande brachte.
Sie trat nach vorn ins Sonnenlicht, und Sherlock sah, dass sie enganliegende braune Reithosen trug, die sich eher für Jungen als für Mädchen schickten. Und eine Leinenbluse, die die Konturen ihrer Brust betonte.
»Ich werde meinem Vater sagen, dass du hier warst«, verkündete sie, als hätte er überhaupt nichts gesagt. »Ich glaube, er ist rüber zu deinem Onkel gegangen, um sich mit dir zu treffen. Er ist davon ausgegangen, dass heute Unterricht ist.«
»Ich wurde aufgehalten.« Sherlock ertappte sich unversehens dabei, dass er sich rechtfertigte. Plötzlich brachten ihn die Reithose und das Pferd auf der nahen Weide auf einen Gedanken.
»Du hast mich beobachtet!«, platzte es unbedacht aus ihm heraus. Ein plötzliches Gefühl von Verlegenheit und Verwundbarkeit ergriff ihn.
»Nun bilde dir mal nichts ein«, erwiderte sie. »Ich hab dich ein paar Mal gesehen, als ich ausgeritten bin. Das ist alles.«
»Wohin bist du denn geritten? Hinter Holmes Manor ist nichts außer unberührter Wildnis.«
»Genau dahin bin ich geritten.« Sie hob eine Augenbraue. »Reitest du denn?«
Sherlock schüttelte den Kopf.
»Solltest du aber mal lernen. Es macht Spaß!«
Sherlock dachte wieder an die Gestalt, die er in der Ferne gesehen hatte. »Du reitest wie ein Mann«, sagte er.
»Wie meinst du das?«
»Die Frauen, die ich bisher Reiten gesehen habe, sitzen seitlich auf dem Sattel. Mit beiden Beinen auf einer Seite. Auf einem sogenannten Damensattel. Du reitest wie ein Mann und sitzt mit gespreizten Beinen gerade im Sattel.«
»So habe ich es eben gelernt.« Sie klang sauer. »Die Leute hier lachen über mich, weil ich so reite. Aber wenn ich es so mache wie sie, falle ich vom Pferd, sobald ich mal schneller als im Trab reite. Dieses Land ist echt komisch. Es ist völlig anders als zu Hause.« Sie schob sich an ihm vorbei, während die Tür hinter ihr zuschlug, und stolzierte von ihm fort auf die Koppel zu. Er starrte auf ihren Rücken.
»Wie heißt du?«, rief Sherlock.
»Warum willst du das wissen?«
»Damit du in Zukunft nicht bloß ›Amyus Crowes Tochter‹ für mich bist.«
Sie blieb stehen und sprach, ohne sich umzudrehen. »Virginia«, sagte sie. »Das ist eine Gegend in Amerika. Ein Staat an der Ostküste, um genau zu sein. In der Nähe von Washington DC.«
»Ich hab davon gehört. Ist das in der Nähe von Albuquerque?«
Sie wandte sich um. In ihrem Gesicht lag eine Mischung aus Verachtung und Belustigung. »Nicht im Geringsten. Tausende von Meilen entfernt. Virginia besteht größtenteils aus Wäldern und Bergen. Albuquerque liegt mitten in der Wüste. Wenngleich es auch dort Berge gibt.«
»Aber du kommst aus Albuquerque.«
Sie nickte.
»Warum seid ihr von da fort?«
Virginia antwortete nicht. Stattdessen drehte sie sich erneut um und steuerte wieder auf die Koppel zu. Sherlock folgte ihr und konnte sich keinen Reim darauf machen, was mit ihm los war. Er kam sich vor, wie ein Hundewelpe an der Leine, der nicht mehr seinem eigenen Willen folgen konnte. Er blickte sich um und hoffte, dass Matty nicht noch irgendwo wartete und mitbekam, was los war. Aber der Junge und sein Rad waren nirgends zu sehen.
»Willst du nicht jemandem sagen, dass du fortgehst?«, fragte er, als Virginia mit einem Fuß in den Steigbügel stieg, den Sattelknauf mit der linken Hand ergriff und sich in den Sattel schwang.
»Es ist niemand zu Hause«, rief sie. »Mein Vater ist weg, wie du dich vielleicht erinnerst.«
»Was ist mit deiner Mutter?«, fragte er. Die Art, wie sich ihr Gesichtsausdruck veränderte und zugleich harte als auch verletzliche Züge annahm, ließ ihn wünschen, die Worte nie ausgesprochen zu haben.
»Meine Mutter ist tot«, sagte Virginia brüsk. »Sie ist auf dem Schiff gestorben, mi
t dem wir über den Atlantik nach Liverpool gekommen sind. Deswegen hasse ich dieses Land, und ich hasse es auch, hier zu leben. Wenn wir nicht hergekommen wären, würde sie noch leben.«
Mit einer kurzen Bewegung ihrer Zügel wandte sie das Pferd um. Sherlock starrte ihr nach, während sie auf dem Pferd davontrottete. Er war verlegen und zugleich wütend auf sich, weil er ihr einen solchen Schmerz bereitet hatte.
Als er sich schließlich zum Gehen umwandte, sah er plötzlich Amyus Crowe vor dem Cottage stehen. Geduldig stützte er sich auf seinen Gehstock und blickte Sherlock ruhig an.
»Wie ich sehe, hast du meine Tochter bereits kennengelernt«, sagte er. Er hatte den gleichen Akzent wie Virginia, so dass es sich eher anhörte wie Wie ik seh, hast du meine Tokter bäreits kännengelärned.
»Sie schien nicht sehr von mir beeindruckt zu sein«, gestand Sherlock.
»Das ist sie von niemandem. Galoppiert in Jungenklamotten die meiste Zeit in der Wildnis herum.« Sein Gesicht verzog sich zu einem schiefen Grinsen. »Kann nicht sagen, dass ich ihr einen Vorwurf mache. Gegen den Willen aus Albuquerque hierher verschleppt zu werden ist genug, um einem Kind die Laune zu vermiesen, auch ohne dass …« Er brach abrupt ab. Sherlock hatte den Eindruck, dass Amyus Crowe eigentlich noch etwas hatte sagen wollen, bevor er es sich gerade noch anders überlegt hatte.
»Wolltest du etwas Bestimmtes von mir oder ging es nur um die nächste Unterrichtsstunde?«
»Es geht tatsächlich noch um etwas anderes«, erwiderte Sherlock. Rasch schilderte er, was in Farnham passiert war. Er erzählte von dem Mann mit dem gelben Puder, dem Lagerhaus und dem Feuer. Gegen Ende sprach er immer leiser und brach schließlich ab, als ihm bewusst wurde, dass er gerade etwas gestand, das man, von einer bestimmten Perspektive aus betrachtet, durchaus als kriminelles Vergehen hätte bezeichnen können. Unsicher, wie er Crowes Gesichtsausdruck nun deuten sollte und welche Reaktion gleich folgen würde, blickte Sherlock auf seinen Lehrer.
Crowe jedoch schüttelte nur den Kopf und sah nachdenklich in die Ferne. »Dir ist ja anscheinend nicht langweilig geworden«, sagte er. »Aber ich bin nicht sicher, wie das Ganze zusammenpasst. Alles, was wir haben, sind zwei Leichen und die Möglichkeit, dass eine Seuche ausgebrochen ist. Wenn du meine Meinung hören willst, lass es sein. Lass die Ärzte und Behörden sich darum kümmern. Es gibt da eine nützliche Lebensregel, die sinngemäß besagt, dass man nicht alle Kämpfe ausfechten sollte, die einem begegnen. Entscheide dich für die wichtigen Kämpfe und überlass den Rest jemand anderem. Und in diesem Fall ist es nicht dein Kampf.«