Death Cloud ysh-1 Read online

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  Der Wagen rollte weiter. Sherlock wagte es nicht, aufzublicken, um sich zu vergewissern, wie weit die Wand noch entfernt war. Denn er fürchtete, dass sich durch die veränderte Körperhaltung die Antriebskraft auf den Wagen verringern und das Gefährt womöglich an Fahrt verlieren könnte. Alles, was er jetzt noch tun konnte, war, seine Schritte zu zählen: eins, zwei … vier … sechs … neun – und jeder war schneller als der vorige. Müsste er nicht schon längst an der Wand sein? Er konnte die Wärme des Feuers in seinem Nacken spüren. Offensichtlich brannte das Tor hinter ihm nun lichterloh. Vor sich sah er den rot gerandeten flackernden Schatten seiner eigenen Gestalt auf dem Holz des Karrens tanzen.

  Im nächsten Augenblick krachte das Wagenende auch schon gegen die Rückwand. Angetrieben durch die Wucht des eigenen Gewichtes bewegte sich das Gefährt noch ein Stückchen weiter voran. Latten zersplitterten und Nägel wurden mit schrecklichem Quietschen aus dem Holz gerissen. Die frische Luft, die Sherlock entgegenblies, wehte den Rauch davon, schürte aber leider auch das Feuer hinter ihm, das sich nun noch schneller voranfraß. Die Hinterräder hatten sich im Holz verhakt, doch hinter den klotzigen Kanten des Wagenkastens konnte er das Tageslicht schimmern sehen. Er kletterte auf den Kutschbock hinauf, krabbelte weiter über die Ladefläche nach hinten und kam schließlich in der herrlich frischen Luft wieder zum Vorschein.

  In seiner Naivität war er irgendwie davon ausgegangen, draußen jede Menge Menschen, darunter mit Handpumpen und Eimern bewaffnete Angehörige der lokalen Feuerbrigade anzutreffen. Aber der Hof lag einsam und verlassen da. Sogar der Hund hatte sich verzogen. Vermutlich war er den Schlägertypen durch das Haupttor nach draußen gefolgt. Auch wenn in der Scheune schon fast ein Inferno getobt hatte, waren die Flammen gegen den klaren blauen Himmel von außen kaum auszumachen. Lediglich ein dünner Rauchfaden stieg in die Höhe. Kaum mehr, als ein Herdfeuer in der Küche verursachen würde.

  Irgendwann würde natürlich jemand aufmerksam werden und nachsehen. Aber vorläufig war noch nicht damit zu rechnen.

  Das Haupttor war geschlossen, und Sherlock vermutete, dass Clem und seine Kumpane es von außen mit einer Kette versperrt und mit einem Vorhängeschloss gesichert hatten. Denn eine ähnliche Vorsicht hatten sie bei fast allen Aktionen an den Tag gelegt, die sie bisher unternommen hatten. Sherlock verdrängte die Gedanken an die Gangster und suchte die Mauern nach einer geeigneten Stelle zum Hinüberklettern ab. Doch da die Innenseite aus unverputzten rohen Ziegelsteinen bestand, hatte er keine Mühe, die Mauer hochzukommen.

  Auf der Mauerkrone hielt er kurz inne und blickte auf die Scheune zurück. Das Feuer hatte sich nun bis zur Dachhöhe vorgearbeitet und bereits die Dachsparren in Brand gesetzt. Er musste von hier fort.

  Halb kletternd, halb fallend erreichte er den Boden und humpelte, so schnell er konnte, davon. Er blieb so lange in Bewegung, bis er das Gefühl hatte, dass ihm die Lungen platzten und die schmerzenden Beinmuskeln dringend nach einer Pause verlangten. Völlig erledigt ließ er sich neben eine niedrige Steinmauer fallen. Er saß einfach nur da und gab sich der Erschöpfung und der Panik hin, die er nun schon eine gefühlte Ewigkeit lang unterdrückt hatte. Er sog die Lungen voller Luft und wehrte sich nicht, als sich die angestaute Anspannung als Zittern in Brust, Armen und Beinen entlud. Nach einer Weile fühlte er sich stark genug, um die Hände anzuheben. Die Haut war zerkratzt und blutig, und die Handflächen waren gespickt mit Holzsplittern, die er bis dahin nicht einmal wahrgenommen hatte. Einen nach dem anderen zog er sie heraus, bis seine Hände von lauter blutigen Pünktchen übersät waren.

  All die Anstrengungen und all die Gefahren! Und was bitte schön hatte ihm das gebracht? Nun, zumindest die Erkenntnis, dass, falls es sich bei dem Tod des Mannes in Farnham um einen Unfall handelte, eine wie auch immer geartete kriminelle Aktivität dahintersteckte. Der Tote hatte seinen Kumpanen etwas gestohlen und dieses »Etwas« hatte ihn umgebracht. Die Kriminellen hatten den Rest von diesem »Etwas« in Kisten verpackt, diese an einen unbekannten Ort verfrachtet und schließlich die Scheune abgebrannt, um alle Spuren zu beseitigen. Und all dies war auf Anweisung eines mysteriösen »Barons« passiert.

  Urplötzlich hatte Sherlock wieder den Moment vor Augen, als er das erste Mal vor dem Tor gestanden hatte und Matty und er fast von einer Kutsche überfahren worden wären. Der Mann in der Kutsche … der Mann mit der weißen Haut und den rosafarbenen Augen … War er der Baron? Und wenn es so war, was genau führte er im Schilde?

  Sherlock merkte auf einmal, dass es schon dunkel wurde. Die Sonne war fast untergegangen. Er musste nicht nur zusehen, dass er möglichst rasch wieder nach Holmes Manor zurückkam, sondern sich gleich nach seiner Ankunft irgendwie waschen und die Kleidung wechseln, ohne dass MrsEglantine mitbekam, dass etwas vorgefallen war. Einen Moment lang hatte er sich der Vorstellung hingegeben, seine Probleme hätten sich für heute erst einmal erledigt. Aber niedergeschlagen wurde ihm klar, dass ihm wahrscheinlich noch so einiges bevorstand.

  6

  Am nächsten Morgen verpasste Sherlock fast das Frühstück. Die Abenteuer des gestrigen Tages hatten ihre Spuren hinterlassen. Er war müde, spürte am ganzen Körper Schmerzen und sein Kopf hämmerte im Gleichtakt mit seinem Herzschlag. Er empfand ein beklemmendes Gefühl in der Brust und wurde darüber hinaus von einem Kratzen im Hals geplagt, das wahrscheinlich vom Rauch kam, den er eingeatmet hatte. Das Abendessen hatte er verpasst. Aber seine Tante hatte dafür gesorgt, dass man ein Tablett mit kaltem Bratenfleisch und Käse für ihn stehen gelassen hatte. Jedenfalls musste es seine Tante gewesen sein. Denn MrsEglantine hätte sich sicherlich einen feuchten Kehricht darum geschert. Die Nacht war in ruhelosem Wechsel zwischen Schlaf und Wachen vergangen, während dem er zwischen Träumen und Erinnerungen hin- und herglitt, bis er nicht mehr sagen konnte, was nun was war. Als er dann endlich doch in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel, ging bereits die Sonne auf. Erst der Gong, mit dem eines der Dienstmädchen zum Frühstück rief, riss ihn aus seinem komatösen Zustand. Damit blieben ihm nicht einmal zehn Minuten Zeit, um sich für den Tag fertig zu machen.

  Glücklicherweise hatte eines der Dienstmädchen ihm bereits eine Schüssel mit Wasser aufs Zimmer gebracht, ohne ihn zu wecken. Er spritzte sich ein bisschen Wasser ins Gesicht, griff nach dem aus Tierknochen gefertigten Zahnbürstenstiel und streute Kalkpuder mit Zimtgeschmack auf die Schweineborsten des Bürstenkopfes. Nach dem Zähneputzen zog er sich rasch an. Er würde sich darum kümmern müssen, dass seine Kleidung bald gewaschen wurde, da er kaum noch etwas Sauberes zum Wechseln hatte.

  Als er die Treppe hinunterflitzte, warf er einen Blick auf die Standuhr in der Halle. Sieben Uhr. Gerade noch geschafft!

  Er eilte in das Speisezimmer. Den finsteren Blick von MrsEglantine ignorierend, musterte er den mit Speiseplatten und Gerichten bestückten langen Büfettisch, der die eine Seite des Raumes einnahm. Sherlock füllte sich eine Portion Kedgere auf. Ein leckeres Gericht aus Reis, Eiern und geräuchertem Schellfisch, von dem er vor seiner Ankunft in Holmes Manor noch nie gehört hatte, für das er aber allmählich eine Vorliebe entwickelte. Er versuchte nach Kräften, jeden Augenkontakt zu meiden, und schaufelte sich das Essen so schnell in den Mund, dass er kaum etwas schmeckte. Er war völlig ausgehungert. Die Ereignisse des Vortages hatten ihm eine Menge Energie abverlangt und die musste nun ersetzt werden. Onkel Sherrinford las ein religiöses Traktat beim Essen und Tante Anna redete wie immer mit sich selbst. Soweit Sherlock es beurteilen konnte, wurde jeder Gedanke, der ihr gerade in den Kopf kam, auf der Stelle artikuliert, ob er nun wichtig war oder nicht.

  »Sherlock«, sagte sein Onkel und blickte von seiner Broschüre auf, die er las. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass du gestern in einen unglückseligen Vorfall verwickelt warst.« Porridgereste zierten seinen langen Bart.

  Einen Moment lang war Sherlock wie gelähmt. Er fragte sich, wie sein Onkel von dem Lagerschuppen und dem Feuer erfahren haben konnte. Aber dann wurde ihm klar, dass Sherrinford von der Leiche sprach, die Amyus Crowe und er im Wald gefunden hatten. »Ja, Onkel«, erwiderte er.

  »Dem Menschen vom Weibe geboren, bleibt nur kurze Zeit«, begann Sherr
inford zu intonieren. »Er ist voll des Elends. Wie eine Blume blüht und verwelkt er, vergeht wie ein Schatten, ohne lange an einem Ort zu verweilen.« Sherrinford fixierte ihn mit durchdringendem Blick und fuhr fort. »Obwohl mitten im Leben, sind wir doch stets vom Tod umweht: Wer könnte uns Hilfe bringen, als Du, oh Herr allein, den wir durch unsere Sünden erzürnet haben.«

  Unsicher, was er darauf antworten sollte, nickte Sherlock nur, als ob er genau verstand, worüber sich sein Onkel gerade ausließ.

  »Du hast ein behütetes Leben bei meinem Bruder und seiner Frau genossen«, sagte Sherrinford. »Alles, was mit Tod und Sterben zu tun hat, mag bisher vielleicht an dir vorbeigegangen sein, aber sie sind natürliche Bestandteile von Gottes Plan. Lass dich dadurch nicht ängstigen. Wenn du mal reden musst, steht die Tür meines Studierzimmers immer für dich offen.«

  Sherlock war gerührt, dass Onkel Sherrinford – wenn auch in seiner ganz eigenen Art und Weise – versuchte ihm zu helfen. »Danke«, erwiderte er. »Hat der Mann, den wir gefunden haben, eigentlich hier oder draußen auf dem Anwesen gearbeitet?«

  »Ich glaube, er war Gärtner«, sagte Sherrinford. »Ich kann nicht behaupten, dass ich ihn gekannt habe. Aber wir werden ihn und seine Familie in unsere Gebete einschließen. Wir werden seine Angehörigen unterstützen.«

  »Er war noch neu«, fügte Tante Anna hinzu. »Ich glaube, er hatte gerade erst bei uns angefangen. Vorher hat er Bekleidung in einer Textilfabrik in Farnham angefertigt, die einem Earl oder Viscount oder irgendeinem anderen Angehörigen der Aristokratie gehört. Die Referenzen des Mannes waren exzellent …«

  »Wie ist er gestorben?«, fragte Sherlock, während seine Tante einfach still weiter vor sich hinplapperte.

  »Das ist kein angemessenes Gesprächsthema während des Frühstücks«, ließ sich MrsEglantine von ihrem Standort am Büfettisch aus vernehmen.

  Sherlock warf ihr einen raschen Blick zu. Sowohl die dreiste Kühnheit ihrer Worte als auch die Tatsache, dass sein Onkel und seine Tante sie nicht zurechtgewiesen hatten, überraschten ihn. Für eine Bedienstete war sie ziemlich vorlaut. Unwillkürlich musste er an Mycrofts Warnung denken: Sie ist keine Freundin der Holmes-Familie. Und er fragte sich, ob hinter MrsEglantine und ihrer Anwesenheit im Haus mehr steckte, als er es für möglich gehalten hatte.

  »Der Junge ist neugierig«, erklärte Sherrinford und musterte Sherlock unter seinen buschigen Augenbrauen hervor. »Neugierde ist eine fördernswerte Eigenschaft. Neben unseren unsterblichen Seelen ist sie es, die uns von den Tieren unterscheidet.« Er wandte sich wieder Sherlock zu und fuhr fort. »Der Leichnam wurde zum ansässigen Arzt gebracht und der hat dem Gerichtsmediziner von North Hampshire ein Telegramm geschickt. Ihnen obliegt es, die Todesursache offiziell festzustellen. Aber so viel ich gehört habe, wies das Gesicht des Mannes die für Pocken oder Pest so charakteristischen Pusteln und Beulen auf.« Er schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Das Letzte, was wir hier brauchen, ist der Ausbruch irgendeiner Seuche. Man wird den Doktor heftig bedrängen, die Lage rasch in den Griff zu bekommen, falls noch jemand krank werden sollte. Wie ich gehört habe, packen ein paar von den Markthändlern bereits ihre Stände zusammen und ziehen woanders hin. Panik kann sich schneller ausbreiten als eine Seuche. Ob Schafe, Weizen, Wolle oder sonst etwas: Farnham lebt vom Handel. Wenn der sich in eine andere Stadt verlagert, geht es mit Farnhams Wohlstand langsam aber sicher zu Ende.«

  Sherlock sah auf seinen Teller hinab. Er hatte genug Kedgeree gegessen, um für eine Weile durchzuhalten, und er wollte unbedingt wieder zurück nach Farnham, um zu sehen, ob er Matty irgendwo auftreiben konnte.

  »Dürfte ich aufstehen, Sir?«, fragte er. Sein Onkel nickte und sagte: »Amyus Crowe bat mich, dir auszurichten, dass er zur Mittagessenszeit wieder da ist, um mit deinen Studien fortzufahren. Sorge also dafür, dass du pünktlich wieder zurück bist.«

  Seine Tante mochte ebenfalls so etwas wie eine Antwort in ihren endlosen Monolog mit eingeflochten haben, aber mit Sicherheit war das nicht zu sagen. Also erhob Sherlock sich und steuerte schon auf die Tür zu, als ihn ein plötzlicher Gedanke zurückhielt.

  »Tante Anna?«, sagte er. Seine Tante blickte auf. »Hast du eben gemeint, dass der verstorbene Mann vorher für einen Earl oder Viscount gearbeitet hat?«

  »Das stimmt, mein lieber Junge«, antwortete sie. »In der Tat, ich glaube mich daran zu erinnern, dass …«

  »Könnte es auch ein Baron gewesen sein?«

  Sie hielt einen Moment lang inne und dachte nach. »Ich glaube, du hast recht«, sagte sie. »Es war ein Baron. Ich hab den Brief noch irgendwo. Er war …«

  »Erinnerst du dich an seinen Namen?«

  »Maupertuis«, erwiderte Tante Anna. »Sein Name war Baron Maupertuis. Was für ein komischer Name, dachte ich noch. Ein französischer, ganz offensichtlich. Oder vielleicht auch ein belgischer. Er hat die Referenz natürlich nicht selbst geschrieben. Ausgestellt hat sie …«

  »Danke, Tante Anna«, sagte Sherlock und verließ das Zimmer, während sie immer noch vor sich hinredete.

  Ein Schauder durchfuhr ihn, als er in die Halle ging. Das alles konnte doch unmöglich Zufall sein. Zwei Männer tot, beide offensichtlich auf die gleiche Weise umgekommen, einer von ihnen Mitglied einer Schlägerbande, die in einem Lagerschuppen in Farnham zu tun hatte, der einem mysteriösen »Baron« gehörte. Und der andere hatte erst kürzlich die Stelle bei einem »Baron Maupertuis« verlassen.

  Es konnten doch nicht zwei Barone in die ganze Sache verwickelt sein, oder? Der Besitzer des Lagerschuppens, der merkwürdige Mann, den Matty und er in der Kutsche hatten wegfahren sehen … Das musste Baron Maupertuis gewesen sein. Und wenn der Mann, dessen Leichnam Sherlock und Amyus Crowe im Wald entdeckt hatten, zuvor für Baron Maupertuis in einer Bekleidungsfabrik gearbeitet hatte, dann befand sich diese Fabrik im besagten Lagerschuppen in Farnham. Und bedeutete das etwa, dass es sich bei den Sachen, die der Tote namens Wint vermutlich aus dem Lagerhaus gestohlen hatte, um Kleidung handelte?

  Sherlock hatte das Gefühl, als ob die unzähligen einzelnen Puzzleteilchen, die bis dahin in seinen Gedanken wild herumrotiert waren, sich auf einmal wie von selbst zusammenfügten. Das Bild zeichnete sich noch nicht deutlich ab. Es fehlten immer noch ein paar Teile, aber allmählich ergab das alles auf merkwürdige Art und Weise einen Sinn.

  Jetzt, da er von der Fabrik, der Kleidung, dem Baron und den toten Männern wusste, konnte Sherlock auf Basis dieser Informationen einige Schlussfolgerungen ziehen. Er war nicht mehr auf reine Spekulationen angewiesen, sondern konnte nun mit ein paar wahrscheinlicheren Theorien aufwarten. Zum Beispiel: Zwei Männer, die mit einer Bekleidungsfabrik in Verbindung standen, waren gestorben, offensichtlich an den Pocken oder der Pest. Bedeutete das, dass die Textilien selbst irgendwie verseucht gewesen waren? Nach dem, was er bei der gelegentlichen Lektüre der Zeitungen seines Vaters aufgeschnappt hatte, glaubte Sherlock zu wissen, dass ein Großteil der Kleidung in den Textilstädten Nordenglands, Schottlands und Irlands produziert wurde. Ferner hatte er gehört, dass ein Teil auch aus dem Ausland importiert wurde. Aus China, wenn es sich um Seide handelte, und vielleicht auch Indien, wenn es um Baumwolle oder Musselin ging.

  Vielleicht war aus einem dieser fernen Länder eine verseuchte Ladung nach Großbritannien gelangt. Oder womöglich war die Fracht von Insekten befallen gewesen, die diese Krankheit in sich trugen, und die Arbeiter in den Fabriken hatten sich damit angesteckt. Das war eine mögliche Erklärung, und Sherlock verspürte das dringende Bedürfnis, jemandem davon zu erzählen. Zuerst dachte er dabei an seinen Onkel, doch er verwarf diese Idee gleich wieder. Sherrinford Holmes mochte zwar ein Erwachsener sein, aber er war auch etwas weltfremd und würde Sherlocks Theorie wahrscheinlich rundweg verwerfen. Einen Moment lang verließ ihn der Mut. Wen hatte er noch?

  Dann fiel ihm Mycroft ein. Er könnte alles aufschreiben und seinem Bruder einen Brief schicken. Mycroft arbeitete für die britische Regierung. Er würde wissen, was zu tun war.

  Er spürte, wie sich allein beim Gedanken an den verlässlichen Mycroft der beklemmende Knoten in seiner Brust etwas zu lösen begann. Aber gleich darauf stell
te sich ihm unversehens die Frage, was genau Mycroft in dieser Angelegenheit tun konnte. Seine Arbeit im Stich lassen und nach Farnham eilen, um die Ermittlungen zu übernehmen? Die Armee entsenden? Viel wahrscheinlicher würde er Onkel Sherrinford einfach ein Telegramm schicken, das Sherlock wieder auf den Teppich bringen sollte.

  Als Sherlock aus dem Haus in das helle Morgenlicht hinaustrat, blieb er einen Moment lang stehen, um nach Luft zu schnappen. Er nahm den Geruch von Holzrauch und frisch gemähtem Gras wahr, und auch die modrigen Ausdünstungen der Brauereien in Farnham waren noch schwach zu riechen. Die Sonne, die gerade hinter den Baumspitzen auftauchte, hüllte das Laub in goldenes Licht und zauberte bizarre Blätterschattenbilder auf den Rasen vor ihm, die aussahen wie ausgestreckte Finger.

  Doch es war noch eine andere Schattenfigur zu sehen: eine, die sich bewegte. Sein Blick folgte der Figur über den Rasen hinweg bis zur Mauer, die das Haus und die angrenzenden Ländereien von der Straße trennte. Dort, auf der anderen Seite der Mauer, erkannte er eine Gestalt auf einem Pferd. Sie schien ihn zu beobachten. Als er die Hand hob, um die Augen vor der blendenden Sonne zu beschirmen, spornte der Reiter das Pferd an. Daraufhin trabte es auf der Straße davon und verschwand schließlich hinter einer hohen Hecke.

  Sherlock ging auf das Haupttor zu. Von Ross und Reiter war keine Spur mehr zu sehen. Aber wenn er Glück hatte, würde er dort einen Hufabdruck vorfinden. Oder vielleicht hatte der Reiter etwas fallen gelassen, wodurch Sherlock in der Lage wäre, ihn zu identifizieren.