Death Cloud ysh-1 Page 5
Sherlock las die Worte und versuchte, hinter ihre Bedeutung zu kommen. Er war flüchtig vertraut mit den Versen von Omar Khayyām, dank eines Gedichtbandes mit dem Titel Rubaiyat Of Omar Khayyām, den dessen englischer Übersetzer Richard Burton der Schulbibliothek gestiftet hatte. Der allgemeine Tenor der diversen Vierzeiler schien zu besagen, dass sich die Räder des Schicksals immer weiter drehten, ohne dass sie sich stoppen ließen, und nur die Mitmenschlichkeit allein konnte auf dem Lebensweg für etwas Freude sorgen.
Der ungewöhnliche Vierzeiler, den Mycroft zitiert hatte, bedeutete, dass Sherlock sozusagen seinen eigenen »Brotlaib« suchen sollte. Etwas Einfaches, das ihm helfen würde, die vor ihm liegenden Tage zu überstehen. Hatte Mycroft irgendetwas Bestimmtes im Kopf gehabt, oder handelte es sich dabei lediglich um einen allgemeinen Ratschlag? Sherlock war versucht, sofort zurückzuschreiben, um seinen Bruder nach weiteren Einzelheiten zu fragen. Aber er kannte Mycroft gut genug, um zu wissen, dass sein Bruder selten tiefer ins Detail ging, wenn er sich zu einer Sache bereits einmal geäußert hatte. Sherlock wandte seine Aufmerksamkeit den letzten Zeilen zu.
Ein letzter Rat noch: Sei vor MrsEglantine auf der Hut! Ungeachtet ihrer Vertrauensstellung ist sie keine Freundin der Holmes-Familie.
Ich weiß, Du wirst diesen Brief nicht unachtsam herumliegen lassen, sondern an einem sicheren Ort verwahren.
Dein Dich liebender Bruder
Mycroft
Sherlock durchfuhr ein Frösteln, als er die letzten Zeilen las. Für Mycroft war es absolut untypisch, eine so offensichtliche Warnung auszusprechen. Woraus sich folgende Frage ergab: Warum hatte er sich so eindeutig geäußert? War es, weil Mycroft wollte, dass Sherlock keinerlei Zweifel bezüglich seiner Meinung über MrsEglantine hegte? Mycrofts letzter Vorschlag – nein, seine letzte Anweisung –, den Brief nicht rumliegen zu lassen, war eine verschlüsselte Botschaft und bedeutete nichts anderes als: Zerstör ihn! Das sah Mycroft schon ähnlicher.
Er schob den Brief wieder zurück in den Umschlag. Aber es steckte noch etwas anderes darin. Ein weiteres Stück Papier. Sherlock zog es heraus und starrte unversehens auf eine postalische Zahlungsanweisung in Höhe von fünf Schillingen. Fünf Schilling! Er hatte Angst davor gehabt, das Thema Taschengeld gegenüber seinem Onkel und seiner Tante anzusprechen. Aber wie es aussah, würde sich Mycroft darum kümmern.
Sherlock stellte fest, dass er von dem Brief hin- und hergerissen war. Auf der einen Seite fühlte er sich aufgemuntert und fröhlicher, nun da Mycroft Kontakt zu ihm aufgenommen hatte, und er wusste, dass Amyus Crowe die Zustimmung seines Bruders fand. Andererseits jedoch war er jetzt zutiefst besorgt über etwas, das er zuvor lediglich als eine dumpfe Besorgnis wahrgenommen hatte: nämlich MrsEglantine und ihre offensichtliche Abneigung gegen ihn.
»Interessanter Brief?«
Die tiefe Stimme war warm und hatte einen Akzent, den Sherlock nicht einordnen konnte. Er drehte sich um, faltete den Brief zusammen und steckte ihn in die Tasche.
Der Mann, der unmittelbar draußen vor der offenen Eingangstür stand, war groß und hatte einen mächtigen Brustkorb. Sein zu allen Seiten abstehender widerspenstiger Haarschopf war schlohweiß und seine Haut hing in kleinen Fältchen am Hals herab. Aber die Art, wie er seinen Körper hielt, strafte sein offensichtliches Alter Lügen. Das ledrige, braungebrannte Gesicht ließ darauf schließen, dass er sich lange in der Natur und unter einer heißeren Sonne aufgehalten hatte, als man sie in England gewohnt war. Was seinen beigefarbenen Anzug betraf, so waren Sherlock Schnitt und Material vollkommen unbekannt. In seiner Hand hielt der Fremde einen breitkrempigen Hut.
»Von meinem Bruder Mycroft«, antwortete Sherlock, nicht sicher, wie er sich verhalten sollte. Sollte er nach einem Hausmädchen rufen oder den Mann hineinbitten?
»Ah, Mycroft Holmes«, sagte der Mann, »Wie ich sehe, haben wir beide gemeinsame Bekannte. Und da ich nicht glaube, dass du alt genug bist, um Sherrinford Holmes zu sein, habe ich stattdessen vermutlich den jungen Sherlock Holmes vor mir.«
»Sherlock Scott Holmes, zu Ihren Diensten«, sagte Sherlock und straffte sich. Er sah sich um. »Ähm, würde es Ihnen etwas ausmachen hereinzukommen, Mr …?«
»MrAmyus Crowe«, antwortete der Mann. »Ehemals aus Albuquerque im Staate New Mexico, Teil der Vereinigten Staaten von Amerika. Und du bist sehr freundlich.« Er trat ein. »Aber wahrscheinlich hast du meine Identität bereits erraten. Ich bin hier auf Empfehlung deines Bruders, und er würde dir sicher nicht schreiben, ohne das zu erwähnen, nicht wahr?«
»Ich sollte wohl nach einem Hausmädchen suchen oder …«
Bevor er den Satz beenden konnte, trat MrsEglantine aus dem Schatten unter der großen Haupttreppe hervor. Wie lange hatte sie dort gestanden? Hatte sie Sherlock dabei beobachtet, wie er den Brief gelesen hatte?
»MrCrowe?«, fragte sie. »Der gnädige Herr erwartet Sie. Bitte, folgen Sie mir hier entlang.« Sie deutete in Richtung Bibliothek.
Sherlock war außer sich vor Schreck und zitterte. Sie konnte unmöglich wissen, was in dem Brief stand. Es sei denn, sie hatte ihn über Dampf geöffnet und anschließend wieder versiegelt, und sein Verstand weigerte sich, ihr das zuzutrauen. Aber nichtsdestotrotz kam er sich vor, als wäre er bei etwas Verbotenem ertappt worden.
Amyus Crowe betrat die Halle und legte seinen Hut und Gehstock an der Garderobe ab. Er ging auf Sherlock zu. »Wir sprechen uns später«, sagte er und legte eine Hand auf Sherlocks Schulter. Obwohl Sherlock groß für sein Alter war, überragte Amyus Crowe ihn dermaßen, dass er sich wie ein zehnjähriger Junge vorkam. »Halte dich hier ein bisschen auf, mein Sohn.« Er blickte sich in der Halle um. »Und versuche herauszufinden, wie viele von diesen Gemälden Fälschungen sind, während du hier wartest.«
MrsEglantine versteifte sich. »Keines davon ist gefälscht!«, zischte sie. »Der gnädige Herr würde so was niemals zulassen!«
»›Keines davon‹ ist eine akzeptable Antwort«, sagte Crowe augenzwinkernd, als er an Sherlock vorbeiging. Er übergab MrsEglantine eine Karte. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie meine Gegenwart ankündigen könnten.«
MrsEglantine führte Amyus Crowe in die Bibliothek. Augenblicke später tauchte sie wieder auf und entfernte sich, ohne Sherlock noch einmal anzusehen. Er sah, wie sie im Schatten an der Treppe verschwand, und fragte sich, ob sie wohl dort stehengeblieben war, um ihn zu beobachten.
Es drangen Stimmen aus der Bibliothek, aber Sherlock konnte keine einzelnen Wörter verstehen. Er schlenderte an der Eichenvertäfelung entlang und nahm nacheinander die spezifischen Einzelheiten jedes einzelnen Gemäldes in sich auf.
Keines der Bilder war beschriftet. Kunsterziehung stand nicht auf dem Lehrplan der Deepdene-Schule, und er stellte fest, dass er nicht viel Interesse für die verschiedenen Landschaften, Meerespanoramen und Jagdszenen aufzubringen vermochte. Mit ihren perfekten Bäumen, der ungestümen See und den auf spindeldürren Beinchen dahingaloppierenden Pferden kamen sie ihm allesamt irgendwie unecht vor.
Albuquerque. Amerika. Das klang so romantisch. Sherlock wusste wenig über dieses Land. Abgesehen von der Tatsache, dass es vor über zweihundert Jahren von England begründet worden war, dass es sich über hundert Jahre später gegen die englische Herrschaft erhoben hatte und dass seine Bewohner ungestüm und unabhängig waren. Oh, und dass es dort vor ein paar Jahren einen Bürgerkrieg gegeben hatte, bei dem es irgendwie um Sklaverei ging. Aber er mochte Amyus Crowe auf Anhieb, und wenn Crowe charakteristisch für seine Landsleute war, wollte Sherlock eines Tages unbedingt nach Amerika reisen.
Es war ungefähr eine halbe Stunde vergangen, als sich die Tür zur Bibliothek öffnete und Amyus Crowe auftauchte. Er lächelte und schüttelte Sherrinford Holmes die Hand. Hinter ihnen verschwammen die dichten Reihen der in grünes Leder gebundenen Bücher ineinander, was aussah, als stünden sie vor einer grünen Landschaft.
»Ah, Sherlock«, sagte Sherrinford. »MrCrowe, erlauben Sie mir, Ihnen meinen Neffen Sherlock vorzustellen.«
»Wir haben uns bereits kennengelernt«, erklärte MrCrowe und nickte Sherlock zu.
»Bestens. Vielen Dank für Ihr Kommen. Ich besor
ge Ihnen ein Hausmädchen, das Sie hinausgeleitet.«
»Machen Sie sich keine Umstände, MrHolmes. Ich werde mit dem jungen Master Sherlock einen Spaziergang über Ihr Anwesen machen, wenn es recht ist.«
»Natürlich, natürlich.« Sherrinford zog sich in die Bibliothek zurück wie eine Schildkröte in ihren Panzer, und Crowe ging zu Sherlock hinüber.
»Nun, welches ist es?«, fragte er. »Wenn überhaupt eines davon.«
Sherlock musterte die Gemälde. Obwohl er sie genauestens untersucht hatte, war er sich immer noch nicht sicher. Er deutete auf ein teilweise unbeholfen ausgeführtes Bild eines Reiters, der auf einem Pferd saß, dessen Beine so dünn waren, dass sie unter dem Gewicht eigentlich hätten umknicken müssen. »Dieses hier ist nicht besonders gut gemalt«, probierte er sein Glück. »Die Perspektive ist völlig verzerrt und die Anatomie stimmt nicht. Ist das die Fälschung?«
»Die Sache mit Betrügern«, sagte Crowe und begutachtete das Gemälde, »ist die, dass die Ungeschickten von ihnen ziemlich schnell erwischt werden. Aber häufig bringen Betrüger bessere Werke zustande als das Original. »Du hast recht, was die schlechte Ausführung des Gemäldes anbelangt. Aber es ist echt.« Er ging hinüber zu einer dramatischen Küstenszene, in welcher sich die Wellen am Strand brachen, während im Hintergrund ein Schiff in den Wogen schwankte. »Das ist die Fälschung.«
Sherlock starrte auf das Bild. »Woher wissen Sie das?«
»Wie einige andere Gemälde deines Onkels stammt auch dieses von Claude Joseph Vernet. Dein Onkel besitzt außerdem auch ein paar Bilder von Vernets Sohn Horace. Der ältere Vernet war bekannt für seine Küstenlandschaften. Dieses hier ist ein Bild von Dover Harbour. Aber Vernet ist niemals in England gewesen. Die Details sind so realistisch, dass es offensichtlich nach dem Leben gemalt worden ist. Deswegen ist es erklärtermaßen kein Vernet. Es ist eine Fälschung in seinem Stil.«
»Das konnte ich nicht wissen«, protestierte Sherlock. »Ich habe nie was über Vernet gelernt. Und über andere Maler auch nicht.«
»Und was sagt dir das?«, fragte Crowe. Er blickte auf Sherlock hinab. Seine kobaltblauen Augen verschwanden fast hinter seiner faltigen Haut.
Sherlock dachte einen Moment lang nach. »Ich weiß nicht.«
»Dass man zwar alles, was man will, ableiten kann, aber dass es ohne Wissen zwecklos ist. Dein Gehirn ist wie ein Spinnrad, das sich so lange end- und ziellos dreht, bis es mit Fäden gespeist wird und Garn zu produzieren beginnt. Informationen sind die Grundlage allen rationalen Denkens. Finde sie heraus. Sammle sie gewissenhaft. Stopf die Speicherkammern deines Gehirns mit so vielen Fakten wie nur möglich voll. Versuche nicht, zwischen wichtigen und unwichtigen Fakten zu unterscheiden: Potentiell sind alle wichtig.«
Sherlock dachte einen Moment lang nach. Er hatte sich darauf gefasst gemacht, beschämt oder verletzt zu werden. Aber in Crowes Stimme lag keine Spur von Kritik, und er hatte gute Argumente.
»Ich verstehe«, sagte er nickend.
»Das glaube ich dir«, erwiderte Crowe. »Lass uns einen Spaziergang machen und sehen, was wir so finden.«
Crowe nahm seinen Hut und Stock von der Garderobe neben der Tür, und zusammen traten sie in den strahlenden Sommersonnenschein hinaus. Crowe überquerte den Rasen vor dem Haus und steuerte auf die Bäume zu, während er über die verschiedenen Wolkenformen am Himmel redete und wie sie mit der jeweiligen Wetterlage zusammenhingen.
»Hast du dir jemals Gedanken über Füchse oder Hasen gemacht?«, fragte er nach einer Weile.
»Nicht speziell«, antwortete Sherlock, der sich fragte, wohin dieser Themenwechsel wohl führen würde.
»Sagen wir mal, du hättest hundert Füchse und hundert Hasen in einem Wald. Und der Wald ist von einem Zaun umgeben, so dass kein Tier heraus kann. Was würde passieren?«
Sherlock überlegte einen Moment. »Die Hasen würden Junge bekommen, die Füchse würden Junge bekommen und die Füchse würden die Hasen fressen.«
»Alle Hasen?«
»Die meisten. Dann wären die restlichen Hasen schwerer zu finden, und vermutlich würden sie anfangen, sich zu verstecken.«
»Was würde dann passieren?«
Unsicher, wohin das Ganze führen würde, zuckte Sherlock mit den Schultern.
»Ich vermute, infolge des Nahrungsmangels würden die Füchse zu sterben beginnen.«
»Und die Hasen?«
»Die würden weiterhin Gras fressen, sich verstecken und fortpflanzen, so dass sich ihre Zahl wieder erhöhen würde.« Auf einmal verstand Sherlock. Es war, als wäre in seinem Kopf ein Leuchtfeuer explodiert. »Und die Zahl der Füchse würde wieder steigen, da sie mehr Hasen fangen, ordentlich was zu fressen kriegen und sich vermehrt fortpflanzen. Und vielleicht würden sich die Füchse so vermehren, dass sie mehr und mehr Hasen fressen, bis die Hasen erneut weniger werden.«
»Und dieser Prozess würde sich stetig wiederholen. Wie zwei aufeinander folgende ansteigende und abfallende Wellen. Hinter der ganzen Sache steckt ein Zweig der Mathematik namens Differentialrechnung, der du deine Aufmerksamkeit widmen solltest. Sie ist äußerst nützlich. Differentialgleichungen könntest du übrigens auch bei Kriminellen und Polizisten in einer Stadt anwenden, wenn du möchtest.«
Er lachte unvermittelt auf. »Polizisten fressen in der Regel natürlich keine Kriminellen, aber das Grundprinzip ist das gleiche. Isaac Newton und Gottfried Leibniz haben diese Art der Mathematik unabhängig voneinander entwickelt. Zudem wurde sie unlängst von Augustin Cauchy und Bernhard Riemann erweitert. Riemann ist übrigens vor ein paar Monaten gestorben. Ein großer Verlust für die Welt, denke ich. Auch wenn ich nicht glaube, dass die Welt es bisher überhaupt mitbekommen hat.«
Sherlock bezweifelte insgeheim, dass Mathematik jemals wichtig für ihn werden würde, und ließ das Thema auf sich beruhen. Er war froh, »seine Speicherkammern des Gehirns« mit Sachen zu füllen, die mit Poesie und Musik zu tun hatten. Mit Sachen also, die er interessant fand. Auf mathematische Gleichungen jedoch konnte er gerne verzichten.
Nachdem sie eine Weile durch den Wald gewandert waren und Crowe ihn unablässig auf die unterschiedlichsten Pflanzen aufmerksam gemacht hatte, erreichten sie die Steinmauer, die die Grenze des Holmeschen Grundbesitzes markierte. Crowe zeigte nach rechts. »Du gehst in diese Richtung und ich in die andere. Sammle so viele Pilze, wie du nur tragen kannst. In einer halben Stunde treffen wir uns wieder hier und dann zeige ich dir, wie man giftige von essbaren Pilzen unterscheidet. Hüte dich davor, einen zu probieren, bevor ich dir das gezeigt habe. Das Probieren ist zwar ein zuverlässiges Analyseverfahren, aber es neigt auch dazu, ein tödliches zu sein.«
Crowe ging nach links, bog Büsche und Grasbüschel mit seinem Gehstock zur Seite und musterte den Untergrund. Sherlock marschierte in die entgegengesetzte Richtung und suchte den Boden ab, in der Hoffnung, im dichten Farnkraut fleischig-weiße Pilzköpfe aufleuchten zu sehen.
Innerhalb von Minuten war Amyus Crowe außer Sichtweite. Sherlock suchte beharrlich weiter. Aber abgesehen von einigen braunen, scheibenförmigen Geschwülsten, die seitlich aus einem Baumstamm herauswuchsen und bei denen er nicht sicher war, ob er sie überhaupt einsammeln sollte, war nichts zu entdecken.
Plötzlich erregte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Zwischen den Bäumen hatte etwas Farbiges aufgeblitzt: Rote Flecken auf weißem Untergrund, wenn er das richtig gesehen hatte. Er ging näher, in der Annahme, dass er eine Gruppe Giftpilze vor sich hatte, die durch den Waldboden gebrochen waren. Aber etwas an der Kontur des Ganzen irritierte ihn. Es sah aus wie …
Als im nächsten Augenblick eine Rauchwolke von dem Gegenstand aufzusteigen begann, wurde Sherlock schlagartig klar, mit was er es zu tun hatte: Vor ihm lag ein verkrümmter Männerkörper. Eine Brise trieb den Rauch davon. Aber Sherlock konnte keine Anzeichen für ein Feuer ausmachen. Einen Moment lang dachte er, der Mann dort vor ihm würde im Liegen Pfeife rauchen und hätte sein Gesicht aus irgendwelchen Gründen mit einem rotgepunkteten Taschentuch bedeckt. Doch als er näherkam, stellte er fest, dass die roten Flecke weder zu irgendwelchen Giftpilzen gehörten noch Punkte auf einem weißen Taschentuch waren.
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bsp; Es waren blutige Beulen, die das Gesicht einer Leiche überzogen.
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Amyus Crowe zog ein Taschentuch aus seiner Tasche und reichte es Sherlock. Aus einer anderen Tasche holte er ein flach gewölbtes mit Leder überzogenes Metallfläschchen hervor. Er schraubte es auf und goss eine braune Flüssigkeit auf das Taschentuch, das Sherlock in der Hand hielt. Von dem getränkten Stoff stieg ein beißender Geruch auf, der einem die Tränen in die Augen trieb und die Nase kribbeln ließ.
»Brandy«, erklärte Crowe auf Sherlocks fragenden Blick hin. »Nur zur Sicherheit und für den Fall, dass dieser Mann an etwas Ansteckendem gestorben ist. Was immer es auch ist. Schließlich wollen wir uns doch nicht das einfangen, was ihn ins Jenseits befördert hat.« Er zog ein weiteres Taschentuch aus einer anderen Tasche hervor und tränkte es ebenfalls mit Brandy.
»Was immer es auch ist?«, fragte Sherlock verwirrt. »Na, bestimmt doch irgendeine Krankheit! Sehen Sie sich nur sein Gesicht an!«
Crowe fixierte Sherlock mit seinen leuchtend blauen Augen. Mit dem Taschentuch in der Hand musterte er seinen Schüler einen Moment lang interessiert. »Glaubst du, dass eine Krankheit etwas ist, das einfach so passiert? Dass Erkrankungen sich ohne Zutun einfach so im Körper entwickeln?«
»Ich habe noch nie richtig darüber nachgedacht«, gab Sherlock zu. »Doch vermutlich schon.«
»Aber du weißt, dass Krankheiten von einer Person zur anderen übertragen werden können. Zum Beispiel wenn sie sich berühren oder sich nahekommen.«
»Ja …«, sagte Sherlock zögernd und fragte sich, wohin das nun wieder führen würde.
»Und macht es dann nicht Sinn, dass irgend etwas von der kranken zur gesunden Person gewandert sein muss und diese dabei krank gemacht hat?«
Sherlock schwieg. Er wusste, dass dies auf eine neue Lektion hinauslaufen würde, egal, was er auch sagte.
»Vor ein paar Jahren war ich in Wien«, fuhr Crowe fort. »Dort habe ich einen Arzt namens Ignaz Semmelweis kennengelernt. Er war Ungar und kümmerte sich um Frauen, die kurz vor der Entbindung standen. Er hatte festgestellt, dass Frauen, die von Ärzten oder Medizinstudenten betreut wurden, größere Chancen hatten, am Kindbettfieber zu sterben, als diejenigen, die sich Hebammen anvertrauten. Intelligenter Mann, dieser Semmelweis. Viele andere Ärzte hätten es dabei belassen. Aber er erkannte, dass diese Ärzte häufig direkt von einer Obduktion zur Entbindung gekommen waren. Er sorgte dafür, dass Ärzte und Medizinstudenten sich die Hände mit Wasser und Chlorkalk wuschen, bevor sie die schwangeren Frauen untersuchten. Dadurch ging die Sterblichkeit durch Kindbettfieber in seinem Krankenhaus stark zurück. Offensichtlich tötete oder zerstörte der Chlorkalk irgendetwas auf den Händen der Ärzte. Etwas, das anderenfalls auf die Körper der Frauen übergegangen wäre.« Er hielt das Taschentuch hoch. »Deshalb der Brandy. Er hat einen ähnlichen Effekt.«